Eindrücke aus der Evangelischen Landeskirche in Württemberg
Bericht von der Pilgeretappe Go-for-Gender-Justice am 16./17.7.2022 in der Ev. Landeskirche Württemberg
Am Samstag, den 16.7., versammelte sich am Flughafen Stuttgart im Terminal 3 eine Gruppe von Frauen, um sich am Samstag und Sonntag auf den Weg zu Hoffnungs- und Schmerzorten in Stuttgart und Esslingen zu machen und auf die Suche nach den „Verborgenen Frauenwelten“ zu gehen. Lange und mit viel Herzblut war diese Etappe auf dem Weg zum ÖRK vorbereitet worden, und wir hätten uns über viel mehr Anmeldungen (auch von Männern!) gefreut.
Im Andachtsraum am Flughafen (FOTO 1) trafen wir zunächst Flughafenseelsorger Matthias Hiller und aus seinem Team von ehrenamtlichen Helfenden Traude Leitenberger. Dieser Andachtsraum ist der einzige in Baden-Württemberg, der von der israelitischen Religionsgemeinschaft, von der islamischen Religion wie der katholischen Kirche (und von den Protestanten sowieso) als Gottesdienstraum anerkannt ist. In einer Andacht von Traute Leitenberger dachten wir über die vielen Wege nach, die mit einer Abreise am Flughafen beginnen oder enden – beim Abflug meist in freudiger Erwartung zum Beispiel bei Urlaubsreisen; bei der Ankunft häufig mit vielen Fragen. Oft kommen Menschen auch ohne Perspektive an und können leicht in die falschen Hände geraten, wie uns in einzelnen Beispielen lebendig erzählt wurde. Da ist der Erntehelfer, der doch nicht gebraucht wird und nun ohne Mittel und Sprachkenntnisse am Busbahnhof wartet, oder der Haftentlassene ohne Pass, der eigentlich nicht nach Hause ausreisen darf. Oder Frauen kommen aus Osteuropa am Busterminal an, um dann häufig statt am versprochenen Arbeitsplatz in einem Bordell zu landen. Wir gingen den Weg zum Busterminal, wo die Busse nach ganz Europa abfahren und ankommen. Vor allem nachts gar kein angenehmer Ort. (FOTO 2, 3, 4)
Zwei Aussagen des Flughafenseelsorgers blieben besonders haften: Wir sind dazu da, die Liebe Gottes weiterzugeben, und wenn dieser Mensch, der vor mir steht, das nicht spürt, dann ist es an mir, sie für ihn oder sie zu verkörpern. Und das zweite: Wir sagen den Menschen nicht, was gut für sie ist, wir fragen sie, was sie jetzt gerade brauchen. Dabei ist es vor allem für „Flughafenfremde“ gar nicht so leicht, bei der Zuständigkeit von Security, Landes- und Bundespolizei zu wissen, wer wofür zuständig ist und kontaktiert werden muss – vieles kann aber auch unbürokratisch auf dem „kleinen Dienstweg“ geregelt werden, wenn die Kontakte und ein gegenseitiges Vertrauen da sind. Die Kirche empfindet der Flughafenseelsorger, der schon in vielen Ländern gelebt hat, als zu introvertiert, dabei müsse sie doch an den Rändern nach den Menschen schauen, die nach dem Auftrag Jesu unsere Nächsten sind.
Nach diesem Auftakt fuhren wir – echtes Pilgern zu Fuß wäre zu zeitaufwendig gewesen – mit der U-Bahn in die Stadtmitte nach Stuttgart, wo wir nach kurzem Fußweg im FIZ ankamen, dem Fraueninformationszentrum in der vij (Verein für Internat-Jugendarbeit). Hier empfing uns Sozialarbeiterin Magdalena Berrer. (FOTO 5)
Frau Berrer erzählt von ihrer Arbeit bzw. der Arbeit des FIZ (Fraueninformationszentrum – FIZ | VIJ (vij-wuerttemberg.de), einer Beratungsstelle für Migrantinnen, geflüchtete Frauen, Betroffene von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung, Asyl und Flucht. Dort arbeiten 12 Berater*innen. Es kommen Frauen, die zum Beispiel durch eine Scheidung von ihrem deutschen Ehemann das Aufenthaltsrecht verlieren, oder eben diejenigen, die von Menschenhandel und Prostitution betroffen sind, aber weder Sprachkenntnisse noch einen Pass besitzen. Es gibt die vielen Fragen und Probleme im Zusammenhang mit Asyl und Migration, oft mit Ausbeutung. Hier bietet das FIZ nicht nur Hilfe und Beratung, sondern auch einen Schutzraum und hilft bei Unterbringung oder Strafverfahren. Der Grundsatz ist, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, der Klient/die Klientin ist selbst Expertin ihres oder seines Lebens. (Foto 6)
Im FIZ gibt es sog. Peer-to-Peer-Multiplikatorinnen (MPS-Projekt). Das sind ehemals von Menschenhandel betroffene Frauen aus west- und zentralafrikanischen Ländern, die sich mit Hilfe mit ihren eigenen Erfahrungen auseinandergesetzt haben und sich dann zu Multiplikatorinnen ausbilden lassen, um andere Betroffene (Peers) beraten können. Sie machen durch Interviews und Vorträge etc. auch Öffentlichkeitsarbeit. Wir lernten die Aktivistin J. kennen, die uns das Projekt vorstellte und auf Englisch von ihrer Arbeit und ihrer Geschichte berichtete, die uns sehr berührte. Sie geriet als junge Mutter in Nigeria in die Hände von Menschenhändlern und wurde zur Prostitution gezwungen. Über das Mittelmeer flüchtete sie nach Europa und mit ihren Kindern nach Deutschland, wo ihr Asylantrag bereits zweimal abgelehnt wurde und sie nur geduldet ist. Dies macht ihr sehr zu schaffen. Trotzdem engagiert sie sich im FIZ für andere Frauen und vermittelt ihnen Hoffnung, da diese – wie sie sagte – oft in Resignation und Depression versinken, wenn sie keine Perspektive finden.
Danach berichtete Tina Neubauer (FOTO 7), die als psychosoziale Prozessbegleiterin Zeuginnen zu Prozessen und Verhandlungen begleitet, von ihrer Arbeit. Dafür braucht es immer wieder viel Einfühlungsvermögen, genauso wie juristische Kenntnisse und Mut, Spielräume zu gestalten und auszudehnen und damit den (meist) Frauen in aller Anspannung, in der sie beispielsweise bei der Konfronation mit Tätern stehen, Stärkung und Respekt zu verschaffen. Gemeinsam liefen wir dann zum Landgericht vorbei, wo viele solcher Prozesse stattfinden. (FOTO 8-10)
Dann ging es über den Weg an der Leonhardskirche vorbei, wo die Stuttgarter Vesperkirche jedes Jahr stattfindet (Foto 11), hinein in das sogenannte Rotlichtviertel. In der hellen Sommerhitze war wenig zu sehen, aber ein dickes schwarzes Auto mit getönten Scheiben, zwei männlichen Fahrern mit Zulassung Bulgarien röhrte an uns vorbei – später sollten wir erfahren, dass fast ausschließlich bulgarische Frauen in Stuttgart als Prostituierte arbeiten. Am nächsten Tag in Esslingen hörten wir, dass die Prostituierten im Landkreis dort überwiegend aus Rumänien stammen – haben sich, so fragten sich einige, die Zuhälter die Gebiete aufgeteilt?
Unser Ziel war das Hoffnungshaus, das Eckhaus an der Jakobstraße (hoffnungshaus-stuttgart.de).(FOTO 12)
Weil wir aus Platzgründen nicht ins Hoffnungshaus hineingehen konnten, trafen wir uns mit der Leiterin, Willbirg Rossrucker, im Bischof-Moser-Haus, einem nahegelegenen Haus der Diözese Rottenburg-Stuttgart, einer der Kooperationspartnerinnen des Pilgerwegs. Das Hoffnungshaus ist ein Projekt der Apis (Evangelischer Gemeinschaftsverband Württemberg e.V.), die hier bewusst einen Rückzugsort für Prostituierte anbieten, wo sie Würde und Anerkennung erleben. Auch Wege zum Neuanfang werden ermöglicht, in Zusammenarbeit mit den öffentlichen Beratungsstellen. Die langjährige frühere Hebamme und jetzige Leiterin des Hoffnungshauses brennt offensichtlich für ihre Arbeit und ihre „Mädels“, wenn auch nur wenige den Weg in den Ausstieg finden – sind sie doch oftmals ohne Sprachkenntnisse, manchmal sogar Analphabeten, ohne Ausbildung – und völlig hilf- und mittellos oder unter der Gewalt von Zuhältern. So sind sie auch komplett von der Gesellschaft abgeschnitten. Im Hoffnungshaus, wo ausschließlich Frauen oder Männer in Frauenkleidung Zugang haben, erhalten Prostituierte mehrmals in der Woche ein schönes Essen, finden Zuwendung, Gesprächspartner und Begleitung. Dabei, so ist es dem Team um Frau Rossrucker wichtig, wird reagiert auf das, was die Frauen brauchen und wünschen, es wird nicht vorgegeben, was – aus Sicht des Teams – gut für sie ist. Sie sollen für ihren Alltag stabilisiert werden, Zuwendung und ein wenig Leichtigkeit erleben. Thematisiert wurde aber auch die Notwendigkeit einer grundlegenden sexuellen Erziehung von Jugendlichen zu einem verantwortungsvollen und aufgeklärten Umgang mit Sexualtität (wie es Frau Rossrucker in Schulklassen macht). Es gibt eine erschreckende Unkenntnis über körperliche Vorgänge oder Prostitution, oft gepaart ist mit einem völlig falschen Bild beim Thema Sexualität (z.B. aufgrund von Pornokonsum).
Im Anschluss an die Berichte von Frau Rossrucker, die uns mit ihrer Tatkraft sehr beeindruckte, stärkte sich die Pilgergruppe an einem wunderbaren „Martinsweg-Buffet“ (Martin ist der Schutzpatron der Diözese Rottenburg-Stuttgart) mit Köstlichkeiten von Szombathely bis Tours, bevor wir mit einer Austauschrunde über das Gehörte den ersten Tag beschlossen.(FOTO 13 und Foto 14)
Sonntag, 17.7.2022
Am Sonntag traf sich ein Teil der Gruppe – die Hartgesottenen sozusagen -, weil nicht alle in der großen Sommerhitze durch die schattenlosen Weinberge pilgern konnten. Der Weg oberhalb des Neckars durch die Weinberge ab Stuttgart Obertürkheim führte in gut 2 Stunden zum Salemer Pfleghof nach Esslingen. Begonnen wurde mit einem Pilgerpsalm, beim Blick auf Esslingen erläuterte die Chancengleichheitsbeauftragte von Esslingen, Barbara Straub, einiges zur Geschichte dieser schönen Stadt, die beispielsweise bald auch das erste klimaneutrale und emissionsfreie Stadtviertel in Deutschland besitzen wird.
Im Zielpunkt, dem Salemer Pfleghof (Foto 15), einem wunderschönen historischen Gebäude am Rand der staufischen Altstadt, erstmals 1229 als im Besitz des Zisterzienserklosters Salem erwähnt. In diesem Haus hat sogar der habsburgische Kaiser in der Zeit Luthers, Karl V., auf dem Weg zum Reichstag einmal übernachtet. (FOTO 16) Dort ist heute unter Anderem der Sitz der katholischen Erwachsenenbildung (keb) Esslingen. Wir hatten einen großen Saal und schattigen Innenhof zur Verfügung. (https://www.stpaul-esslingen.de/unsere-gemeindeh%C3%A4user/salemer-pfleghof/)
Nach einer kurzen kulinarischen Stärkung trafen wir zwei Sozialarbeiterinnen von RAHAB, einer Beratungsstelle für Menschen in der Prostitution. (Rahab - Beratung für Menschen in der Prostitution (kreisdiakonie-esslingen.de), Nora Triantafiludis und Silvia Vintila. Frau Vintila, die selbst aus Rumänien stammt, gab uns einem exemplarischen Einblick in den Lebenslauf von „Nelli“. Sie zeigte damit, dass der Weg in die Prostitution häufig Resultat von häuslicher Gewalt, mangelnden Bildungs- und Berufschancen sowie einer fehlenden finanziellen Unterstützung auch durch den Staat oder mangelnde Perspektiven im Heimatland sein kann. Das Beratungsangebot von RAHAB richtet sich nach dem individuellen Bedarf der Situation. Frau Triantafulidis sagte es ganz pointiert: „Ich rette keine Frauen, ich frage sie, was sie brauchen“. Die Beratung orientiert sich an einer akzeptierenden und wertschätzenden Grundhaltung und erfolgt vertraulich sowie kostenlos und bei Bedarf anonym, zum Beispiel in Sozial- und Lebensberatung, Krisenintervention, mit Hilfe zur finanziellen Existenzsicherung, fachlicher Begleitung zu Behörden und Ämtern, Beratung bei gesundheitlichen und rechtlichen Fragen sowie Unterstützung eines Ausstiegs aus der Prostitution. Wieder wurde deutlich, dass ein Ausstieg sehr schwer und selten ist, weil es eigentlich kaum realistische Perspektiven gibt, wie Frauen ohne Geld, Sprachkenntnisse oder Berufsausbildung selbständig Fuß fassen können und sie zudem als „Huren“ stigmatisiert werden.
An diesen beeindruckenden Bericht der Arbeit von RAHAB schloss sich eine Diskussion um das Prostitutionsgesetz von 2001 an, dessen Absicht es war, Prostituierte u.a. finanziell abzusichern, in dessen Folge aber Deutschland zum Bordell Europas wurde. Prinzipien und Praxis sind hier nicht unbedingt in Deckung zu bringen. Das „nordische Modell“ bzw. die Kampagne „Rotlicht aus“, der sich auch die württembergische Landessynode angeschlossen hat und was einige der Mitpilgernden als alternativlos betrachten, löst auf Seiten der Diakonie vor allem die Befürchtung aus, dass man die Frauen nicht mehr erreichen kann mit Hilfe und Beratung. (FOTO 18). In dieser kontroversen Diskussion ist es derzeit kaum möglich, eine für alle befriedigende Antwort zu finden, zumal die Zusammenhänge sehr komplex sind und berufliche Perspektiven in den Herkunftsländern häufig fehlen, um nur ein Problemfeld zu benennen.
Am Ende der Pilgeretappe stand die Formulierung von Thesen und Wünschen, die den Ökumenischen Rat in Karlsruhe erreichen sollen. Sie waren vielfältig, grundlegend bis konkret, zu nennen sind hier nur einige wenige:
- Frauen sind keine Objekte/Waren!
- Sexualethische Fragestellungen in der Ausbildung => Trainings- und Modelle
- Thema Menschenhandel und Prostitution: auf TOP der (kirchlichen) Delegationen nach Osteuropa bringen!
- Formulierung eines Schuldbekenntnisses von Theologie/Kirche hinsichtlich einer christlich-kirchlichen jahrhundertealten Tradition, die eine Hierarchisierung von Männern gegenüber Frauen, des Geistes gegen über des (weiblichen) Leibes/Körpers gepredigt und befördert hat.
- Differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen der verschiedenen Regulierungsmodelle von Prostitution
- Prävention und Sensibilisierung zu sexualethischen Fragen und Themen sowie Gleichberechtigung fördern und ausbauen
- Betroffene von Menschenhandel und Menschen in der Prostitution müssen mehr gehört und eingebunden werden in der Diskussion über den Umgang mit Prostitution
- Lobbyarbeit der Kirche bei Bundestagsabgeordneten/PolitikerInnen (=Gesetzgeber*in) => Änderung des Prostituiertenschutzgesetzes
- Gesetze schaffen, die Normen und Werte beeinflussen, besonders bei Jugendlichen
- Finanzierung aller Unterstützungsangebote durch die hohen Steuereinnahmen aus dem Rotlicht-Milieu
- Stigmatisierung / Kriminalisierung der Freier und Profiteure, nicht der Prostituierten
- Finanzierung der Hilfs- und Beratungsangebote für Betroffene
Den Abschluss des Pilgerwochenendes übernahm die Schirmherrin der Pilgeretappe, Oberkirchenrätin Carmen Rivuzumwami, mit einer inhaltsreichen und schönen Andacht über einen Paulus-Text, dass der Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist (1, Korinther 6,19), verbunden mit der Aufforderung an die Kirche, ein Schuldbekenntnis abzulegen, hinsichtlich einer christlich-kirchlichen jahrhundertealten Tradition, die eine Hierarchisierung von Männern gegenüber Frauen, des Geistes gegen über des (weiblichen) Leibes/Körpers gepredigt und befördert hat.
Zuletzt sagen wir gemeinsam: Sister, carry on, it may be rocky and ist may be rough, but sister, carry on. Sister don’t lose the dream… we share the way… (Carolyn Mc Dade).
Erfüllt und mit vielen Impulsen und Gedanken bereichert, jedoch auch mit einem gewissen Gefühl der Ohnmacht angesichts der Komplexität des Themas und der Schwere der einzelnen gehörten Schicksale, bereichert durch den Austausch und die Gemeinschaft, machten wir uns auf den Heimweg. Es bleibt noch viel zu tun!