Eindrücke aus der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
Pilgeretappe in Halle/Saale vom 8.-10. Juli 2022
FAZIT
„Wir müssen lauter werden“, weil die Themen der Geschlechtergerechtigkeit Zukunftsthemen für Kirche und Gesellschaft sind. Die, die für Vielfalt eintreten, brauchen die Solidarität derer, die die Kirche leiten. Für jeden Menschen gilt: „Ich bin wunderbar gemacht, das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139,5)
Einen Ort mit einem Thema erkunden, schärft den Blick, verändert Sichtweisen und Vorurteile. Wunder am Wegrand und Schmerzpunkte werden sichtbar. Verbindungen entstehen mit denen, die dort etwas für andere tun. Ein Ort verändert sich, wenn eine Gruppe einen Ort begeht.
Erst auf dem Weg kommt die Erkenntnis. „Wir sind das Salz der Erde.“ (Matthäus 5, 13) Jede*r kann die Stimme gegen Ungerechtigkeit erheben, sich informieren und weitersagen, was er*sie erkannt hat. Wie kann ich auf meine Umgebung hören und zugleich auf mich selbst?
Los geht es am am Freitagabend in der Jugendherberge. Lena Lehmann vom Miteinander e.V. führt uns ein in das weite Themenfeld. Die Unterscheidung der Begriffe ist wichtig: Misogynie, Sexismus, Genderismus, Antifeminismus. Wir merken schnell, wie sich dahinter bedrückende Alltagserfahrungen von Menschen verbergen. Wir beschließen den Tag mit einer Andacht in der methodistischen Kirche.
Der Samstag bildet das Herzstück des Pilgerweges. An neun Stationen in der Stadt nehmen wir das Thema unter die Füße, um einzutreten für Geschlechtergerechtigkeit, um uns an Hoffnungsorten und Schmerzpunkten zu informieren und uns berühren zu lassen.
Die erste Station auf unserem Weg ist ein Hoffnungsort. Das Bauwagenprojekt der Kirchengemeinde Silberhöhe „Man sieht sich“ will ein Treffpunkt und Gemeinschaftsort für Menschen in diesem Stadtteil sein. Pfarrer Martin Golz erzählt sehr persönlich. Wie hier Menschen mit ihren Sorgen und Bedürfnissen ganz niedrigschwellig und nah an ihrer Lebenswirklichkeit wahrgenommen werden, hinterlässt tiefe Eindrücke bei allen. Ein Kernsatz: „Jede*r hat einen ‚an der Waffel‘. Wir sind alle besonders.“ So entsteht Augenhöhe. Mit einem Segen sendet uns Pfarrer Golz auf den Weg, den wir auf dem ersten längeren Wegabschnitt im Schweigen gehen. Eine sagt später, wie das Schweigen ihre Aufmerksamkeit für das Umfeld geschärft hat: „Wenn man/frau* schweigend pilgert, sieht und hört und entdeckt sie am Wegesrand unglaublich viel.“ Im Schweigen durch einen normalerweise wenig beachteten Stadtteil zu gehen, verändert etwas bei denen, die gehen, wie auch bei denen, die dort leben. Es geht um Sehen und Gesehen-Werden.
Die „Wonderful woman wall“ ist die zweite Station auf unserem Weg. Dorothee Land erzählt von der Gruppe junger Künstler*innen, die als Freiraumgalerie Impulse in die Stadt tragen. Am Giebel eines Hauses ist ein Kunstwerk entstanden, das Biografien von 48 Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und mit verschiedenen thematischen Schwerpunkt sichtbar macht. Ein Leuchtturmprojekt, das auf Nachahmung wartet.
Ein dritter Hoffnungsort, der zugleich auch Schmerzort ist, das Fachzentrum für geschlechtliche Vielfalt. Babett Jungblut und zwei Vertreter der Gruppe „queer und glauben“ weiten den Blick für Entwicklungen und Notlagen im Themenfeld „Geschlechtliche Vielfalt“. Das Fachzentrum ist eine zentrale Ansprechstelle für LSBTI*, ihre Familien und Freund*innen sowie auch für Organisationen und Einrichtungen, die sich mit geschlechtlich-sexueller Identität im Allgemeinen und der von LSBTI* im Besonderen beschäftigen. Hier geschieht eine hochengagierte Arbeit, die berät und aufklärt und gleichzeitig eine Lobby ist für queere Menschen.
Auf dem Marktplatz in Halle berichtet uns Almuth Schulz an der vierten Station von den „Omas gegen Rechts in Halle“ von vielfältigen Aktivitäten. Eine Initiative, bei der auch Opas, Kinder und Enkelkinder bei Gegendemos, Infoständen, Sitzblockaden Gesicht zeigen gegen menschenverachtende und rechtspopulistische Einstellungen.
Am Gedenkstein – unserer fünften Station – für Frauen und Mädchen, die zu DDR-Zeiten in der ehemaligen Poliklinik Mitte auf einer Venerologischen Station massive Gewalt erfahren haben, berichtet uns Anne Kupke-Neithard vom Schicksal dieser Frauen und der Aufarbeitung der Geschichte. „Zwischen 1961 und 1982 befand sich in der Kleinen Klausstraße 16 die geschlossene Venerologische Station des Stadtkrankenhauses Poliklinik Mitte. Frauen und Mädchen (ab dem 12. Lebensjahr) wurden unter dem Verdacht einer Geschlechtskrankheit – in vielen Fällen jedoch ohne medizinische Notwendigkeit, zudem ohne Aufklärung und Einwilligung – hier eingewiesen. Sie wurden menschenunwürdig behandelt und sollten zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ umerzogen werden. Sie wurden dadurch folgenschwer verletzt.“
Teil des Projektes „FrauenOrte – Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt“ ist die Erste geburtshilfliche Klinik in Deutschland, die die sechste Station auf unserem Weg ist.
An der siebten Station, dem sogenannten „Roten Ochsen“, Haftanstalt und Gedenkstätte, führt uns Carola Ritter eindrücklich vor Augen, wie Haftbedingungen heute nur eingeschränkt an den Bedürfnissen von Frauen und Transpersonen – die nur 5% der Inhaftierten ausmachen – orientiert sind. Ein Teil des Gebäudes ist heute die Gedenkstätte „Roter Ochse“. Sie ist Schmerz- und Erinnerungsort für u.a. mehr als 9000 Gefangene, die von 1950 bis Dezember 1989 in dem vom Ministerium für Staatsicherheit (MfS) der DDR als Untersuchungshaftanstalt geführten Gefängnis inhaftiert waren.
An der achten Station im Diakoniewerk Halle, einem weiteren FrauenOrt, hören wir von der langen Geschichte diakonischen Engagements durch die Diakonissen und auch vom sich abzeichnenden Ende dieser Form tätiger Nächstenliebe. Hier haben Frauen 150 Jahre Beeindruckendes geleistet.
Neunte und letzte Station auf unserem Weg ist die „Weiberwirtschaft“, die vom Dornrosa e.V. getragen wird. Ein Frauenzentrum, das Treffpunkt, Galerie, Beratungsort ist und eine 4500 Bände umfassende Bibliothek zu Frauen- und Mädchenthemen beherbergt. Elke Prinz berichtet uns von der wechselvollen Geschichte und aktuellen Herausforderungen.
Zwischenzeitlich sind wir auf dem Weg eine Gruppe von Menschen zwischen 1 und 92 Jahren, weil einige dazu kommen, andere wieder aufbrechen.
Inspiriert und erfüllt beschließen wir den Tages mit einem Politischen Nachtgebet und spüren, wie die informiertes Beten den Glauben mit dem Alltagsleben verwebt. „Ich glaube an Jesus Christus, der aufersteht in unser Leben, daß wir frei werden“ (Dorothee Sölle). Freiheitsrechte sind unverhandelbar. Wundervoll begleitet wird das Gebet durch die Pianisten Almuth Schulz.
Nach einer Auswertungs- und Reflexionsrunde am Sonntagmorgen endet die Pilgeretappe mit einer Standkundgebung auf dem Marktplatz in Halle. Das Carillon des Roten Turmes spielt extra für uns „Sonne der Gerechtigkeit“ „Go down Moses“ und „Geh aus mein Herz und suche Freud“ und es sprechen neben der Gleichstellungsbeauftragten der EKM Dorothee Land, die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Halle Susanne Wildner und die stellvertretende Superintendentin des Kirchenkreises Halle-Saalkreis Pfarrerin Gundula Eichert.
Die Etappe wurde durch Anika Enke bei Instagram auf dem Kanal der EKM begleitet. Wir bedanken uns für ihre wundervolle Arbeit Pilgeretappe auf Instagram. Und ein großer Dank auch allen, die mitpilgerten, ihre Sichtweisen einbrachten und Erfahrungen weitertragen.
Erfurt, im Juli 2022, Dorothee Land